Goldmedaille für Goldtour

Viele waren schon da, viele wollen noch hin: zum Radmarathon rund um den Bodensee. Jedes Jahr am zweiten Septemberwochenende findet er statt: 220 km, durch drei Länder, 12 Stunden Zeit, verschiedene Start- und Zielorte rund um den See, sodass sich die Radlermengen (ca. 2000 Teilnehmer insgesamt) gut verteilen. Man kann auch kürzere Strecken fahren. Es ist eine Schweizer Veranstaltung und es gibt, wie in Deutschland, keine Zeitnahme.

Ich wollte pünktlich um 7:00 Uhr starten, um ein gutes Zeitpolster zu haben, z. B. für Panne, Gegenwind und/oder Verirren. Man hätte bis 9:00 Uhr starten können. Es gab Startnummern, die man sich ans Fahrrad binden musste, und eine Startkarte, die an den Kontrollstellen abgestempelt wurde, und auf der ein Abschnitt für die Benutzung der Fähre war. Denn nicht der ganze Bodensee wird umrundet, ein Teil wird ausgespart und die Fähre zwischen Konstanz und Meersburg benutzt.

Ich wollte allein fahren. Begleiter hatte ich keine gefunden. Die meisten Teilnehmer hingegen reisen in Gruppen an und fahren dann zusammen. Das hat den Vorteil, dass man es etwas gesellig hat und durch Fahren im Windschatten schneller voran kommt, und den Nachteil, dass man immer seinem Vordermann aufs Hinterrad schauen muss, um nicht zu stürzen, und  man sieht nicht viel von der Gegend. Und man muss sich im Tempo anpassen.

Die Dunkelheit ist gerade gewichen, als ich in Stein am Rhein die Startformalitäten erledigte und mich auf die Strecke begab. Ich hatte vorher nur wenig gefrühstückt und trank von dem bereitstehenden Flauder. Alles Chemie, dachte ich zuerst bei dem starken, wenig vertrauten Aroma, als ich merkte, das ist ja Holunder, sowohl Blüte als auch Fruchtsaft. Nicht schlecht als Erfrischung.

Es sollte ein schöner Tag werden, aber zwischen Stein am Rhein und Radolfzell hing noch schwer der Frühnebel, sodass ich meine Brille abnehmen musste. Wir fuhren häufig auf gut ausgebauten Radwegen. Wie Leuchttürme standen orange gekleidete, sehr jugendliche Helfer immer dort, wo man aufpassen musste, jedoch sagten sie nichts und gestikulierten auch nicht, das war etwas befremdlich.        

Die erste Etappe war die längste, ca. 50 km bis Meersburg. Wir fuhren nicht immer am See entlang, sondern auch durch etwas welliges Gebiet mit Apfelbäumen in Reihen, schon voll behangen, alle unter Netzen. Ich war hungrig. Die Fische im Bodensee sind neuerdings auch hungrig, denn das Wasser ist zu sauber geworden, so kann das gehen. In der Ferne sah man manchmal im Morgenlicht als bizarre Kette die Alpen. Konstanz kam, die Fähre, eine kleine Ruhepause. Mit mir waren wohl 50 Radfahrer darauf. In Meersburg noch ein kleines Stück, dann kommt die Kontrollstation mit der Verpflegung, davon ging ich aus. Dann ein Hinweisschild zum Rechtsabbiegen, ein Waldstück an der Straße. „Achtung, herunterschalten“ stand darauf. Was für eine putzige Umschreibung für den Verpflegungspunkt, dachte ich noch, und dann sah ich, das war wörtlich gemeint: Es ging steil bergauf. Da musste ich erstmal absteigen. Ausgerechnet an der Stelle hatte sich der Fotograf für die gewerblichen Bilder von der Tour aufgebaut, damit die Radfahrer nicht so schnell davongehuscht sind. Noch ein kleines Stück weiter, und es gab wirklich etwas zu essen und zu trinken.

Ich hätte es wissen müssen! Dennoch nahm ich von den isotonischen Getränken, für die ein Sponsor gesorgt hatte, dazu Powerriegel und solche Sportlerkekse, alles gut gemeint. Ich vertrage das nie. Schon bald war mir übel. Mein Fehler. Aber weiter. Irgendwann in einem Dorf war der Laden noch auf, ein riesiger Becher Kaffee, Käsebrötchen und die Welt ist wieder in Ordnung. Wenn ich längere Strecken fahre, privat und ohne Veranstaltung, sind das meine normalen Versorgungsstellen: Tankstellen und die Bäcker in den Supermarkt-Vorkassenbereichen, schnell und effizient, nach zehn Minuten ist man wieder draußen, und der Kreislauf geht nicht so sehr zurück. An den sechs Verpflegungsstellen rund um den Bodensee musste man alles kaufen, was nicht Wasser, Sportgetränk, Kuchen, Kekse, Riegel oder Trockenobst war, das ist beim Laufen anders, selbst in Biel in der Schweiz beim 100-km-Lauf.

Bald kam Bregenz mit dem schmalen Uferstreifen. Schon vor der Stadt staute sich der Autoverkehr, da konnte man froh sein, auf dem Fahrrad zu sitzen. Allerdings gab es auch für uns einige rote Ampeln, was soll man machen. Dann kam eine Stelle, an der ich mit mir selbst kämpfen musste: der Fabrikverkauf von Wolford. Die haben elegante und hochelastische Damenbekleidung. Ich liebe die Schlauchröcke der Firma, die ich im zivilen, nicht so sportlichen Leben gern auf dem Fahrrad trage. Es sind welche von den wenigen Kleidungsstücken, die seit Jahrzehnten unverändert sind, bis auf die Farben. Sollte ich schnell rein, einen rausholen? Die hätten sich aber gewundert, wenn ich da mit meinen Radklamotten von der Rundfahrt erschienen wäre, denn, wie ich zwei Tage später merkte, als ich auf dem Rückweg nach Haus dort war, geht es darin vornehm und ziemlich teuer zu. So kam ich später doch noch zu einem neuen Radrock.

Dann war Österreich vorbei und die Schweiz hatte uns wieder. Die Reklame am Straßenrand in Schwyzer Dütsch nervte. Die Österreicher tun doch auch nicht so was! Irgendwie ziemlich provinziell.

Die Strecke war gut ausgeschildert mit manchmal etwas eigenwilligem Text auf den Schildern. „Polizeiliche Vorschrift“ für die Benutzung von Radwegen. Im letzten Jahr war ein Teilnehmer frontal in ein Auto geknallt, als er es nicht tat. Die Schilder waren rot und man gewöhnte sich gut an sie. Einmal war da ein ähnlich geformtes rotes Schild mit der Aufschrift „Seniorenwohnheim“, auch dahin sah ich jemanden im Tran abbiegen.

Andere Radfahrer ließen sich massieren oder legten sich in die Sonne, ich hingegen hielt mich nie lange an den Kontrollstellen auf. Denn vom Laufen steckt mir die Angst vor dem Zeitlimit in den Knochen. Einmal floss in Strömen Rivella, dieses Molkegetränk, das es in Deutschland selten gibt, aber für das all die vielen Radfahrer ungewollt Reklame machen, die mal auf Mallorca trainiert und sich dort ein bedrucktes Trikot besorgt haben. Werbungsmäßig ist Rivella schon mächtig präsent hier. Ein anderes Mal gab es viel Apfelschorle aus dortiger Produktion, auch nicht schlecht.

Nach gut 10 ½ Stunden war ich wieder in Stein am Rhein, Umrundung geschafft. 217 km hatte ich auf dem Kilometerzähler. Ich war mit einem Schnitt von 24 km/h unterwegs gewesen, nach der „Uhr“.  Ich bekam eine Goldmedaille wie jeder, der die lange Goldtour gefahren war. Die ist sehr schön, sie hat ein  historisches Steinhaus darauf mit einem Auto davor, darunter in farbigem Emaille die drei Länderwappen. Die Schweizer verstehen was von Geld, Münzen und deren Prägung. Flauder war auch noch da. Eigentlich hätte ich lieber Kaffee getrunken, aber der sollte in Selbstbedienung 2.50 Euro kosten, was denken die sich bloß dabei, das kann man nicht unterstützen. Die Dusche: großräumig und mit edlen Armaturen. Die für die Damen sah gänzlich unbenutzt aus. Ich schätze, es der Frauenanteil lag bei nicht höher als 5%. Eigentlich schade, bei den Duschen von Vorteil.

Am nächsten Tag waren wir noch im Appenzeller Land, wo es schon richtig alpin wird.  Da sind hinreißend schöne Mountainbikestrecken, viel Asphalt darauf, sodass man auch Rennräder nehmen kann. Bei einer solchen Kombination lohnt sich die weite Fahrt zum Bodensee-Radmarathon umso mehr. Das kann ich nur empfehlen. Nur wegen des Preisniveaus etwas mehr Geld einstecken. Wir übernachteten in einem Dorfgasthof, richtig romantisch, aber die Decken erdrückend niedrig, die Treppen winklige Stiegen: eigentlich Armutsarchitektur. In der grünen Landschaft, zwar hübsch anzusehen, stehen die Bauernhöfe viel zu dicht für den kargen, hängigen Boden, da muss es früher furchtbar bescheiden zugegangen sein. Wer aus solchen Verhältnissen kommt, der braucht das Geld zur Sicherheit, der fürchtet wohl nichts mehr, als das es eines Tages heißt, Heidiland ist abgebrannt.

Vorbei ist die Radsaison dieses Jahres mit ihren Höhepunkten, nun will ich wieder mehr laufen.